Europa umsonst
Auf der Rückfahrt von einer Reise an die Cote d'Azur rumpelte mein Zug über die Bahnschwellen und legte sich bei Weichen manchmal in die Kurven.
Ein junges Mädchen, das etwas jünger als ich war, kam zur Abteil-Tür herein und hatte -bevor ich meine Hilfe anbieten konnte- ihren Rucksack mit Schwung auf die Ablagefläche für Gepäck befördert.
Sie machte einen sehr selbstbewußten Eindruck, zeigte aber auch Symptome von Nervosität. Ich sprach sie auf die Nervösität an. "Ich habe keine Fahrkarte", gestand sie mir. Gut, daß ich aufgrund des Interrail-Passes nicht in einer solchen Klemme stecke, dachte ich mir, ohne diese Gedanken zu äußern.
"Hast du kein Geld?", fragte ich."Ich habe Geld, aber ich darf es nicht ausgeben", antwortete sie.
Dann begann sie mir von ihrem Projekt zu erzählen. Ihr Projekt bestand daran, in den ganzen Sommerferien durch Europa zu reisen, ohne Geld auszugeben. Das bedeutete Trampen, was wir junge Leute trotz der Gefährlichkeit in den 70er Jahren fast alle taten. Das bedeutete, auf Bauernhöfen für Essen und Unterkunft zu arbeiten.
Die Sommerferien gingen gerade zu Ende. Sie mußte schnell nach Hause zurück und hatte daher die Eisenbahn genommen -selbstverständlich ohne von ihrem Projekt abzuweichen.
Mein Rat lautete:"Erzähle dem Schaffner von deinem Projekt". Sie fand die Idee gut.
Nachdem ein junger, fröhlicher Schaffner alle in unserem Abteil kontrolliert hatte, fing sie an in Schulfranzösisch von ihrem Projekt zu erzählen. Der Schaffner, der kaum älter war als wir, wirkte sichtlich beeindruckt. Aber er sagte dennoch: "Ich kann das nicht entscheiden. Ich hole den Oberschaffner".
Der etwas rundliche Oberschaffner betrachtete alle Reisende im Abteil und erklärte dann: "Meine Kollege berichtete mir von einem angeblichen Problem". Dann sagte er zu mir: "Monsieur, ich hörte von meinem Kollegen, daß Sie mit einem Interrail-Pass reisen. Ihre elfjährige Tochter fährt aufgrund Ihres Interrail-Passes natürlich umsonst mit".
Hans-Peter Oswald
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